Wenn mit Konventionen der Figuren- und Handlungsentfaltung gebrochen wird
„Und jetzt ist es soweit. Der Tassilo ist veröffentlicht. Unverbogen. Keiner kann behaupten, dass er besonders nett, rücksichtsvoll oder intelligent wäre oder dass er gar guten Stil hätte. Er ist ein Punk, ein Sorgenkind und wird nie bessere Noten heimbringen, er ist wunderschön.“ – Simon Weinert über seinen Roman.
Mit Tassilo der Mumienabrichter veröffentlichte Simon Weinert im Juli 2015 seinen Debüt-Roman im Verlag Das Beben. Weinerts beruflicher Werdegang führte ihn über ein abgebrochenes Germanistik-Studium, ein abgeschlossenes Gesangs-Studium und diverse Jobs zu seinen jetzigen Tätigkeiten als Übersetzer, Betreiber einer Buchhandlung und freier Schriftsteller.[1] Und zu seinem Tassilo. Ein Fantasyroman, dessen Veröffentlichung von einem breiteren Publikum weitgehend unbemerkt blieb und ein echter Geheimtipp ist.
Tassilo ist nicht nur Titel des Buches, sondern auch Name des Protagonisten: ein junger Teenager, der im Mittelfeld der barock anmutenden High Society der Stadt Elon aufwächst. Fairerweise muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass Elon nur aus High Society besteht. Wer nicht als Sklave im Haus seines Herren wohnt, lebt und arbeitet im Grund, dem Slum außerhalb der Stadt. Wer jedoch beruflich nicht mit dem Grund in Berührung kommt und etwas auf sich hält, ignoriert die Existenz des Grundes und seiner Bewohner.
Die Bewohner Elons verstehen sich hervorragend darauf, sich die Zeit möglichst kurzweilig zu vertreiben und ihren Neigungen nachzugehen. Und dabei sind die geschminkten und mit Perücken ausstaffierten Wohlhabenden keineswegs diskret; es darf nicht nur, nein, es wird erwartet, dass man genauso derb wie häufig flucht, seine Triebe mit exquisiten Praktiken befriedigt und bei jeder Gelegenheit Alkohol oder Schnupfwürmer, Tiere die lebendig mit der Nase eingesogen werden und einen kurzen Rausch verschaffen, konusmiert. Das große Vorbild dabei ist ihr Patron, „der Gewiefte“, der, wie könnte es anders sein, ein umtriebiger Schwerenöter war. Zeitgleich ist es aber verpöhnt, zu weinen, Mitleid zu haben oder von Gefühlen geleitet zu handeln. Kurz gesagt: Man darf keine Schwäche zeigen.
Und genau diese Selbstbeherrschung, das Wahren des Scheins, ist Tassilos Problem. Schon bei den kleinsten Lappalien (nach elon’schen Maßstäben) bricht er in Tränen aus und beschämt seine Familie ein ums andere Mal. Kurz bevor er es endgültig zu weit treibt und ihn sein Vater eigentlich schon verkaufen will, stellt sich heraus, dass Tassilo eine besondere Gabe besitzt. Er beherrscht das Handwerk seines Vaters, das Mumienabrichten, eine weitere Kuriosität Elons, deutlich besser als sein Vater und auch alle anderen Mumienabrichter Elons. Für dieses Handwerk werden die Leichen einer bestimmten Affenart benötigt.
„Das ist das Sonderliche an diesen Affen, dass ihre Muskeln durch Reize an der Kopfhaut auch nach dem Tod noch aktiviert werden können. […] Wenn du dann weißt, welcher Muskel wo stimuliert werden kann, musst du nur noch die richtigen Stellen in der richtigen Reihenfolge hintereinander mit einer Nadel stechen, dann tut der tote Affe was du willst. […] Diese Kombination wird dann auf eine mechanische Apparatur übertragen, die ähnlich funktioniert wie eine Spieluhr. […] Lässt man die Apparatur laufen, dann spult sie ihre eingravierte Kombination ab, und der Affenleib macht, was ihm auf den Kopf gestichelt wird.“
Und im Erkennen und Merken der richtigen Stellen liegt das bis dahin verborgene Talent Tassilos.
Typischerweise werden in Fantasyromanen die Protagonisten entweder von vornherein als Helden dargestellt oder die Geschichte ist gleichermaßen die Entwicklung von meist schwächeren Figuren zum Helden. Auch in Tassilo mutet vieles so an, als wenn mit der Entdeckung seiner Fähigkeiten ein vergleichbarer Entwicklungsschub der Figur beginnen würde. Jedoch irrt sich der gutgläubige und an Genrekonventionen gewöhnte Leser gewaltig.
Was folgt, ist das, was passiert, wenn ein pubertierender, völlig frustierter Junge plötzlich über Macht, Ansehen und Zugang zu Drogen verfügt; und dabei eine dystopische Gesellschaft zum Vorbild hatte, die den Mächtigen vieles nachsieht und dem Leben der weniger Mächtigen keine größere Rolle beimisst. Tassilo scheint geradezu resistent dagegen zu sein, sich auf irgendeine Form von Charakterentwicklung einzulassen. Und so verstreicht Moment um Moment, von denen jeder prädestiniert für einen Charakterwandel wäre, ungenutzt. Belehrungen und Ratschläge anderer verpuffen an ihm, Vorhaben, ab jetzt alles anders zu machen, werden, sobald ihn ein erneuter Rückschlag trifft, wieder verworfen und Handlungen, die zunächst wie Taten der Reue wirken, entpuppen sich als geradezu absurd niederträchtig und egoistisch. Kurzfristiges Vergnügen und Wohlfühlen haben immer die oberste Priorität, womit er die Einstellung einer ganzen Gesellschaft verinnerlicht hat: „Ah, wie köstlich! Dunkle Zauberei, Höllenkreaturen, Wahnsinn und Schrecken konnten es nicht mit dem fröhlichen Genuss von Schnupfwürmchen und Rosenbier aufnehmen, nicht in Elon!“
Dem Leser bleibt dabei nichts anderes übrig, als mit einer Mischung aus Entsetzen, Spaß und Faszination zu verfolgen, wie sich Tassilo den vermeintlichen Ungerechtigkeiten der Welt entgegenstellt, mit nichts bewaffnet außer falschen Freunden und dem grenzenlosen Ego eines frühreifen Genies. Entsetzen auf Grund der kaltherzigen Figuren, die erschreckend realistisch wirken. Spaß, da komische Momente, zotige Sprüche und Naivitäten die Mundwinkel stets wieder nach oben treiben. Und zu guter Letzt die Faszination davon, dass all dies in diesem bunten, originellen Roman gekonnt miteinander verwoben wurde.
Chapeau! Oder wie der Elonit sagen würde: Gewieft!
/Jonas Sowa/
[1] Frühere Veröffentlichungen waren Kurzgeschichten und Erzählungen in: Raumanzüge & Räuberpistolen – Fantastische Kurzgeschichten (2011) und Der Drache regt sich (2006).
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