Noch vor dem Start des Sommersemesters, am 28. Januar 2016, erlebte das Germanistische Institut seinen ersten Gastvortrag in diesem Jahr im Haus der Filiale der Ungarischen Akademie der Wissenschaften: Dr. phil. Stephan Elspaß, Universitätsprofessor für Germanistische Linguistik und Fachbereichsleiter in Salzburg, der am Vormittag desselben Tages schon als Opponent bei einer Verteidigung an unserem Institut aktiv war, stellte in einer knapp einstündigen Präsentation eines seiner aktuellen Projekte zum Thema Variantengrammatik des Standarddeutschen dar.
Der inhaltlichen Einführung durch Herrn Prof. em. Dr. Péter Bassola gingen wie üblich einleitende Worte durch Frau Dr. habil. Zsuzsanna Gécseg voran, die das Institut mit seinen regelmäßig stattfindenden Vorträgen als ein besonders aktives lobend würdigte.

Herr Elspaß (Universität Salzburg)
Klar gibt es vielfältige Varietäten im Deutschen, hinsichtlich Aussprache und Lexik ist das unbestritten und breit erforscht. Da gibt es zahlreiche Wörter und Phrasen, die etwa nur im Deutschen in Österreich auftauchen und im bundesdeutschen Sprachraum nicht bekannt sind, wie beispielsweise das Pickerl (Plakette) und der Karfiol (Blumenkohl). Oder denken wir an die Aussprache des Anlauts von Chemie. So weit, so gut. Aber eine Variantengrammatik?
Doch langsam – zunächst gilt es den Begriff einer Standardsprache eingehender zu betrachten. Denn dann sollte uns auffallen, dass, obwohl das Deutsche eine so genannte pluriareale Sprache ist, das Bundesdeutsche häufig als Standard- und mithin als ‘normales’ Deutsch deklariert wird. Titel von Duden-Bänden wie „Wie sagt man in Österreich“ belegen diese Sichtweise deutlich, auffälligerweise gibt es keine Ausgabe „Wie sagt man in Deutschland“. Deutsches Deutsch braucht also, so hieße die Schlussfolgerung, nicht besonders ausgewiesen zu werden, weil es richtiger ist?
Herrn Elspaß geht es beim Begriff Standardsprache um einen Standard in der gedruckt erscheinenden Schriftsprache, deren Grundlage der tägliche Gebrauch, also kein idealistisch-normatives Konstrukt ist. In Anlehnung an Peter Eisenbergs Beschreibung im Zweifelsfälle-Duden sind Varianten immer noch korrekter Standardsprachgebrauch, wenn diese es einem Sprecher erlauben, sich im geschriebenen Standard unauffällig zu bewegen[1].
Ändert das Wetter, oder ändert sich das Wetter? Sätze wie den ersteren kann man in regionalen Zeitungen lesen, ohne dass sich jemand über ein fehlendes Reflexivpronomen beschweren würde. Der Autor des Satzes bewegt sich demnach unauffällig im geschriebenen Standard seiner Region. Nehmen wir solch gedruckte Varianten also ernst: Das meint Herr Elspaß mit einem Gebrauchsstandard, der die alltäglich gedruckte Schriftsprache zur Grundlage einer Beschreibung macht und einen überregionalen normativen Standard als Konstrukt erweist, der eben nicht richtiger ist.
So ist auch die E-Mail, in vier der sechs erfassten bundesdeutschen Sprachräume zu 99% ermittelt, nicht besser als das E-Mail, was in Österreich meist häufiger (69% in Österreich-Ost), aber auch in der Schweiz (63%), Liechtenstein (40%) und Südtirol (14%) gedruckt erscheint.
In einem zunachst trilateralen (mit Augsburg), nunmehr bilateralen, österreichisch-schweizerischen (Salzburg – Graz – Zürich) Projekt arbeitet Herr Elspaß mit seinen Kolleginnen und Kollegen an einer Variantengrammatik, die in Form eines Wiki veröffentlicht werden soll. Datengrundlage ist ein Korpus, das aus mehr als 600 Millionen Wörter aus 62 regional verbreiteten Online-Ausgaben von Zeitungen besteht und Texte der letzten 15 Jahre berücksichtigt. Darin werden zurzeit Varianten zu ca. 3500 grammatischen Einzelvariablen untersucht. Die Veröffentlichung der ersten Artikel soll in Kürze folgen.
Die Überlegungen des Projektteams belassen es nicht bei den nackten Zahlen der Erhebungen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich zum einen, dass die Sprache an den nationalen Grenzen nicht Halt macht. So lassen sich in Südost-Deutschland Varianten finden, die zwar nicht in Norddeutschland, dafür aber in Österreich gebräuchlich oder sogar die Regel sind. Zum anderen gibt es Fälle, in denen es innerhalb eines Landes zu solch signifikanten Abweichungen kommt, dass von einer ,nationalen Variante‘ nur schwer die Rede sein kann. Das vom Projektteam bevorzugte pluriareale Modell scheint somit der tatsächlichen standardsprachlichen Variation gerechter zu werden als ein plurizentrisches Modell, das von Zentren und Halbzentren ausgeht, die mit den nationalen Grenzen übereinstimmen.
Unweigerlich stellt sich die Frage nach falsch und richtig auch im Deutschunterricht. Herr Elspaß sprach sich dafür aus, dass sowohl der muttersprachliche als auch der DaF-Unterricht die Varianten des Standdarddeutschen angemessen berücksichtigen solle. Damit soll von den Lehrkräften aber nicht Unmögliches eingefordert sein: Es gehe hierbei nicht um das aktive Beibringen aller Varianten, sondern darum, ein Bewusstsein für die pluriareale Alltagsrealität zu entwickeln und auch den Unterschied zwischen Angemessenheits- und Korrektheitsnormen daraufhin zu überdenken. Ein Satz, in dem das Wetter ändert, wäre somit als Variante eines Satzes mit reflexivem Verb zu akzeptieren und nicht als Fehler zu markieren.
In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass das Thema und seine methodische Umsetzung auch in Szeged auf großes Interesse stößt, sodass es nicht das letzte Mal gewesen sein wird, dass wir von den Varianten standarddeutscher Grammatik gehört haben.
Übrigens können auch aufmerksame Laien zum Anwachsen des Wiki beitragen. Wie? Mehr dazu hier.
/Christoph Beeh/
[1] Die genaue Formulierung findet sich in folgender Publikation: Eisenberg, Peter (2007): Sprachliches Wissen im Wörterbuch der Zweifelsfälle. Über die Rekonstruktion einer Gebrauchsnorm. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 03/07, 209-228.
Fotos: Christoph Beeh
The post Vortrag zu einer Variantengrammatik des Standarddeutschen appeared first on Germanistisches Magazin.